Terug naar het verslag
 

Vor dem Dortmunder Gefängnis erinnerten Pfadfinder und Botschafter der
Erinnerung an das Schicksal enthaupteter Widerstandskämpfer.
© Peter Bandermann

 
Nationalsozialisten ermordeten französische
Widerstandskämpfer im Dortmunder Gefängnis

Nachrichten/Dortmund, 19.10.2018


NS-Verbrechen

Er war Pfadfinder, studierte Medizin und starb als katholischer Widerstandskämpfer im Gefängnis. Die Nationalsozialisten enthaupteten in Dortmund nicht nur den Pfarrer Pierre Carpentier.

Elf Monate lang wartete der französische Priester Pierre Carpentier im Bochumer Gefängnis „Krümmede“ auf ein Urteil. Vor über 75 Jahren, im Juni 1943, wurde es in Dortmund vollstreckt: Nationalsozialisten enthaupteten den Widerstandskämpfer und weitere angebliche Straftäter im Minutentakt.

„Die Vorwürfe lauteten Feindbegünstigung, Spionage, deutschfeindliche Aussagen, Arbeiten für die Untergrundpresse und das Verstecken Untergetauchter“, berichtet der Bochumer Gefängnis-Seelsorger Alfons Zimmer. Er hat zum Schicksal der in Bochum inhaftierten und in Dortmund ermordeten Nazi-Gegner recherchiert. Mit ihm stehen an einem Sonntagnachmittag (28.10.2018) 50 Bürgerinnen und Bürger vor einer Mauer des Dortmunder Gefängnisses - im Nationalsozialismus eine „zentrale Richtstätte“ des Deutschen Reiches. Über 300 wurden hier getötet. Heute erinnert eine Gedenktafel an die Opfer der Gewaltherrschaft.

Einige von ihnen halten Plakate mit Schwarzweißfotos, Namen und kurzen Texten hoch. Gesichter, Frisuren und Brillen lassen erkennen, dass die Portraits aus der Vergangenheit stammen. Sie zeigen Widerstandskämpfer, die von den Nationalsozialisten ab 1943 im Dortmunder Gerichtsgefängnis skrupellos enthauptet worden sind. „Im Minutentakt“, wie Alfons Zimmer berichtet. Für den Nazi-Staatsanwalt hatte das Morden ab dem Sommer 1943 in Dortmund einen logistischen Vorteil: Für die Vollstreckung der Todesurteile mit der Guillotine musste der Jurist nicht mehr nach Köln fahren.


Der französische Pfadfinder und Widerstandskämpfer Pierre Carpentier.
© Alfons Zimmer

„Frieden ist kein Besitz“

An das Schicksal des französischen Priesters Pierre Carpentier und den gewaltsamen Tod vieler anderer Widerstandskämpfer erinnern auch die 22 für drei Tage eigens aus Abbeville in Frankreich angereisten Pfadfinder und die Dortmunder Pfadfinderschaft Sankt Georg. Die Initiative dafür hatte der frühere Pastor der Baroper Gemeinde St. Franzskus Xaverius, Wilfried Göddeke, ergriffen. Seit Jahrzehnten schon engagiert er sich in der katholischen Jugendarbeit für die deutsch-französische Völkerverständigung. Er ist mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.


Wilfried Göddeke: „Frieden und Versöhnung sind kein Besitz, den man in die Tasche stecken kann. Man muss ständig dafür weiterkämpfen.“ © Peter Bandermann

„Die meisten Leute glauben: Die Sache ist gelaufen, die Versöhnung hat stattgefunden und jetzt kann jeder gemütlich für sich weitermachen - aber das ist eine ganz schwere Täuschung. Denn Frieden und Versöhnung sind kein Besitz, den man in die Tasche stecken kann. Man muss ständig dafür weiterkämpfen“, sagte Wilfried Göddeke nach der Gedenkstunde auf der Lübecker Straße. Die politische Lage in Deutschland sei allerdings beunruhigend.

Was Deutschland und Frankreich verbindet

„Ich bin ein Pfadfinder aus Abbeville“, sagt der junge Dortmund-Besucher Baptiste Chapotard auf der Lübecker Straße. Der Mann, an dessen Schicksal auch Baptiste erinnert, beeindrucke ihn sehr: „Abbé Pierre Carpentier war sehr mutig.“ Der Zweite Weltkrieg sei sehr schwer für die Menschen in Frankreich und Deutschland gewesen. Mit seinem Mut und seinen Botschaften könne Pierre Carpentier beide Länder gut miteinander verbinden.


Baptiste Chapotard, Pfadfinder aus Abbeville: „Mit seinem Mut kann Pierre Carpentier Deutschland und Frankreich gut miteinander verbinden.“ © Peter Bandermann

Sorgfältig wählt auch ein junger Dortmunder seine Worte: „Die Erinnerung ist wichtig, weil geschriebene Quellen für die nachfolgenden Generationen schwer zu greifen sind. Deshalb versuchen wir die Erinnerungen von Zeitzeugen wachzuhalten und ihre Erlebnisse zu bewahren. Uns trifft keine Schuld, aber wir müssen dafür sorgen, dass so etwas wie die Gräueltaten der Nationalsozialisten nie wieder passiert“, begründet Fabian Karstens als „Botschafter der Erinnerung“ seine Teilnahme. In Dortmund gibt es inzwischen über 200 junge Botschafter der Erinnerung, die in Schulen aktiv waren oder an Gedenkveranstaltungen mitgewirkt haben.


Fabian Karstens, Botschafter der Erinnerung: „Uns trifft keine Schuld, aber wir tragen Verantwortung.“ © Peter Bandermann

Ein barbarisches System

„Bei einer aktiven Nazi-Szene, die sich ganz bewusst auf den historischen Nationalsozialismus beruft, ist es wichtig, auf die Konsequenzen nationalsozialistischen Denkens hinzuweisen. Gerade die Verbrechen in den letzten Kriegsjahren zeigen, wie barbarisch und wie unmenschlich das System war“, sagt Andreas Roshol vom Jugendring Dortmund.

Der Jugendring bildet die Botschafter der Erinnerung aus. Die 1946 gegründete Organisation war nach dem Krieg ein deutlicher Gegenentwurf zur Hitler-Jugend. Junge Dortmunder sollten ihre Wünsche mit demokratischen Mitteln umsetzen können und nicht einem Führer folgen.

Der Jugendring arbeitet auch heute intensiv auf vielen Ebenen, aber vielfach im Stillen. Erinnerungsarbeit kommt ohne Geschrei und Parolen aus. Wie an diesem kalten Sonntagnachmittag vor dem Gefängnis. Die Worte sind gut überlegt. Die Sprache kommt ohne Befehlsform aus.


Andreas Roshol, Jugendring: „Die Verbrechen in den letzten Kriegsjahren zeigen, wie unmenschlich das System war.“ © Peter Bandermann

Nationalsozialisten entgegentrefen

„Habt Mut und steht auf“, lautet dabei ein Appell von Pfarrer Ansgar Schocke aus der Nordstadt. Die Nazi-Szene in Dortmund sorge immer wieder für Aufruhr. „Wir Dortmunder müssen diesen Menschen entgegentreten. Gerade wir als Kirche haben diesen Auftrag. Menschen, die mit ihrem Leben für ihre Überzeugung eingetreten sind, dürfen wir niemals vergessen“ sagt er mit Blick auf die Schwarzweißfotos von den Gesichtern auf den Plakaten.

Der französische Priester Pierre Carpentier starb im Alter von nur 31 Jahren einen Tag nach seinem Todesurteil. Über Jahrzehnte blieb sein Schicksal in Dortmund verborgen. Wie so viele Schicksale in der Stadt. Der Bochumer Gefängnis-Seelsorger Alfons Zimmer recherchierte in der Vergangenheit. Doch keine Zeitung, auch nicht die Kirchenpresse, hatte je über den Priester und Pfadfinderführer berichtet. Die Franzosen verehren den mutigen Katholiken in ihrer Heimat. In Deutschland ist dessen Geschichte weitgehend unbekannt. Als Pfadfinder schloss er sich der Résistance gegen Hitler-Deutschland an. Pierre Carpentier „half dabei, alliierte Fallschirmspringer und Piloten außer Landes zu bringen. Die große Widerstandsgruppe wurde verraten“, berichtet Alfons Zimmer.

1942 von der Gestapo festgenommen

1941 nahm die Geheime Staatspolizei den Widerstandskämpfer fest. Pierre Carpentier war einer von vielen sogenannten „Nacht- und Nebelgefangenen“ aus Frankreich und Beneluxländern. Die Nacht- und Nebelgefangenen sollten überraschend und lautlos verschwinden. Diese Festnahme-Taktik sollte andere Widerstandskämpfer einschüchtern.

Es folgten Folter und die Deportation über Lille und Brüssel nach Bochum, wo Carpentier im Sommer 1942 einer von vielen Widerstandskämpfern war. Gegen alle Verbote feierte Pierre Carpentier in seiner Gefängniszelle die Heilige Messe. Auf den Fluren spendete er gläubigen Gefangenen heimlich die Kommunion. Elf Monate nach der Inhaftierung in Bochum nahm der Franzose mit der Gefangenen-Nummer 789/42 sein Todesurteil entgegen. Am 30. Juni 1943 starb er unter dem Fallbeil im „Lübecker Hof“ in der Innenstadt von Dortmund. Alfons Zimmer: „In seiner Heimatstadt Abbeville ist ein Platz nach ihm benannt. Gedenkstelen erinnern an ihn. Pfadfinder-Gruppen tragen seinen Namen.“

Dortmunder Pfadfinder erinnern nun an dem Ort an den Priester, wo er von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Alfons Zimmer: „Sein Markenzeichen war ein Lächeln.“

Der Dortmunder Jugendring ist 1946 gegründet worden und war ein Gegenentwurf zur „einheitlichen Jugend“, wie sie die Nationalsozialisten mit der Hitler-Jugend heranziehen wollten. Die Jugendverbände haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengeschlossen, damit junge Menschen ihre Ideen demokratisch umsetzen konnten.

Peter Bandermann,
Dortmund
, 29.10.2018